Die Lust am Song. Der Nobelpreis für den Song-and-Dance-Man, 13. Oktober 2016

In Englisch- und überhaupt in Literatur-Departments der Universitäten in (fast) aller Welt gehörte es in den sechziger und siebziger Jahren zum guten, progressiven Ton, den Literatur-Nobelpreis erst dann wieder für diskussionswürdig zu halten, wenn Bob Dylan ihn erhalten habe, als Repräsentant einer literarisch ambitionierten, musikalisch versierten, politisch engagierten Counter Culture. Wer so sprach, sprach gegen das, was man „das Establishment“ nannte. Oder glaubte das jedenfalls zu tun. Denn seit eben derselben Zeit sind die Klagen und Anklagen derjenigen nicht verstummt, die Dylan eben wegen der literarischen Ambitionen seiner Songs für den Erz-Verderber einer Popkultur hielten, deren Schlachtruf in den jugendfrischen Anfängen des Rock’n’Roll gelautet hatte: „Awop-bopaloobop-alop-bam-boom!“ Es war der Refrain von Little Richards Tutti Frutti gewesen, der siegessichere Aufschrei des Pop, in der poetischen Vitalität und Wollust seines Nonsens durch keine kunstvollen Verse zu überbieten – und ganz gewiss keiner Nobilitierung durch die etablierte Hochkultur mehr bedürftig. Der große Rockkritiker Nik Cohn überschrieb mit Little Richards Refrain sein längst zum Klassiker gewordenes Buch über die Anfänge der Rockmusik, und unter seinen Feindbildern nahm Bob Dylan begreiflicherweise einen Vorzugsplatz ein.
Beide Meinungen sind bis heute nicht verstummt. Und beide verklärten oder verdammten den Umstrittenen, um es in dessen Muttersprache zu sagen, for all the wrong reasons. Schon das Schlagwort vom „Politischen“ war zumindest anfechtbar. Ein politischer Sänger, jedenfalls im agitatorischen Sinne des Wortes, war Bob Dylan ja schon seit seinem vierten Album nicht mehr gewesen. Strenggenommen hatte sich in diese Kategorie überhaupt nur das dritte widerstandslos gefügt, The Times They Are A-Changin‘ von 1964. Und auch da konnte man im Rückblick den Eindruck gewinnen, ebenso interessant wie die großen Themen der Bürgerrechtsbewegung sei für den jungen Dylan das Spiel mit der Songpoesie Bertolt Brechts gewesen, die er damals gerade kennengelernt hatte. Brechts „Gestus des Zeigens“ zu verbinden mit den engagierten Folksongs, wie sie sein erstes Idol Woody Guthrie geschrieben und gesungen hatte: das war das ästhetische Experiment, das sich im (damit keineswegs entwerteten) politischen Engagement verbarg.
Seitdem aber hatte Dylan sich in ganz andere Themen und, ineins damit, in ganz andere poetische und musikalische Ausdrucksformen hinüberbewegt, diesmal in einer buchstäblich unerhörten, nie gehörten Verschmelzung von Beat Poetry und elektrifiziertem Rock’n’Roll, mitsamt der vielen Traditionen, die in ihn eingegangen waren, dem Blues und den Kinderreimen, dem Gospel und dem Rockabilly und und und. Like A Rolling Stone sei der größte Rocksong aller Zeiten, befanden die vom Fachblatt Rolling Stone befragten Kritiker Jahrzehnte später, und sie meinten damit eine Kunst, die zwar auch politisch so aufschlussreich und bedeutend war wie alle große Kunst, aber die doch vor allem eins sein wollte: Kunst. Und zwar eine, die den Rock’n’Roll nicht lediglich als Vehikel für lyrische Texte missbrauchte, sondern ihn ebenso ernst und so spielerisch nahm wie diese. Wer diesen Songpoeten als einen Künstler würdigen wollte, der doch ‚eigentlich‘ vor allem ein Dichter sei (als müssten die elektrische Gitarre, die Band, die dandyesken Kostümierungen als Peinlichkeiten übergangen werden), der verfehlte das Wundersame und an Wundern volle dieser Verschmelzung ebenso wie derjenige, der ihn als einen talentierten, nur leider ins literarische Fach abgeglittenen Komponisten und Rockinterpreten verteidigen wollte.
Dylan hat seither in einem schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum und mit dem Finderglück des Jägers und Sammlers immer neue Kombinationen des vermeintlich Unvereinbaren erprobt. Keiner in seiner Generation hat die musikalischen und poetischen Traditionen einer zweihundertjährigen amerikanischen Popularkultur so vielfältig, so überraschend, so schöpferisch mit dem Kanon der Bildungskultur zusammengeführt, liebevoll und respektlos gegenüber beidem. Ebendiese Vermischung ist es, die ihn mit dem amerikanischen Shakespeare des 19. und frühen 20. Jahrhundert verbindet, dessen zwischen „high brow“ und „low brow“, hochkulturellen und popkulturellen Formen changierende Anverwandlungen er auf seinen letzten Alben zu einem verborgenen Leitmotiv erhoben hat, zuletzt vor erst vier Jahren auf seinem Album Tempest. Wie bei Dylan die Beat Poets den Blues lernten und Brecht mit den Worksongs und Dust Ballads von Woody Guthrie zusammentraf, so brachte er Homer mit John Lennon ins Gespräch, Ovid mit der Country Music und Petrarca mit Sinatra. Und jedes Mal bildeten dabei Poesie, Musik und Performance eine unauflösliche Einheit; Dylans vielzitierte Selbstvorstellung als „a song and dance man“ fasste dieses Programm am knappsten zusammen – und zwar einschließlich des Zirkus- und Spektakelhaften, das darin anklingt.
Vielleicht sind die Jahrmarktsshows des amerikanischen 19. Jahrhunderts, deren letzte Ausläufer er als Kind in Minnesota noch miterlebt zu haben behauptet, überhaupt das wichtigste Rollenmuster für Dylans performative Song Poetry. Was er an ihr liebte und was er in wechselnden Gestalten nachgeahmt hat, das ist eine lebendige, mündliche Kulturform, in der die Shakespeare-Travestien der Wanderbühnen ebenso fortlebten wie Moritat und morality play, Zeitungsnachrichten und Zaubersprüche. Die Lust am Text: das ist für Dylan, von den ersten Aufnahmen bis heute, vor allem die Lust am Song. Es ist bei Lichte besehen eine durch und durch romantische Lust, nicht weit entfernt von dem Impuls, der Arnim und Brentano dazu brachte, aus Des Knaben Wunderhorn alte Kinder- und Kirchenlieder, Balladen und Liebeslieder und mehr oder weniger heimlich von ihnen selbst dazugedichtete Strophen erklingen zu lassen. Es ist die Sehnsucht, aus einer avancierten und hoch differenzierten Schriftkultur heraus einen neuen Anschluss zu finden an die Ursprünge einer Poesie, in der Wort und Klang, Kunstwerk und Aufführung noch eine ungeschiedene Einheit gewesen waren.
Der naheliegende Einwand, mit Dylan werde doch letztlich eher ein Musiker ausgezeichnet als ein Literat, trifft ihn darum so wenig, wie er Homer oder die Minstrels des Mittelalters getroffen hätte (um nur zwei der Vorbilder zu nennen, auf die sich Dylans Songs mehr oder weniger offen bezogen haben). Und umgekehrt: So viel seine unendlich wandlungsfähige Kunst gelernt hat aus den Beständen der Weltliteratur, so beharrlich ist sie doch gesungene, aufgeführte Kunst gewesen. Dylan hat in seinen frühen Jahren einige gelungene und einige weniger gelungene Gedichtzyklen und Prosatexte geschrieben, er hat in seinen späten Jahren eine aufsehenerregende Autobiographie veröffentlicht, die eher ein autobiographischer Roman wurde. Und er hat eine Fülle von Songtexten verfasst, die gedruckt nachzulesen sind, lyrics statt Lyrik. Aber wer ihn in seiner Meisterschaft erleben will, muss hören, was aus dieses alten Knaben Wunderhorn ertönt. Und das heißt zuerst und vor allem: diese Stimme, die es streng genommen wie alles bei Dylan auch nur im Plural gibt. Diesem Songpoeten den Nobelpreis für Literatur zu verleihen heißt würdigen, dass sich unter den technischen Bedingungen unserer multimedialen Kultur der romantische Traum vom Dichter als einem „song and dance man“ ganz neu träumen lässt. Dylan bekommt den Nobelpreis – das ist, mit einem Wort, „Awop-bopaloobop-alop-bam-boom!“

(Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)