Günter Grass, Vonne Endlichkait: Einführung in eine Lesung, 14. Juni 2015

In einem seiner schönsten Bücher, dem Märchenroman Der Butt, zeigt uns Günter Grass jenen Dichter, mit dessen Buch von der deutschen Poeterey die neuere deutsche Poesie eigentlich begonnen hat, jenes Dichters, der aller zeitgenössischen und folgenden Poesie das Maß, die schöne Regel gab, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Grass zeigt ihn als einen Dichter, der mit seinen Gedichten fortzusetzen versuchte, was er als Diplomat auf der europäischen, auf der Weltbühne lebenslang anstrebte: den konfessionell und politisch bis auf Mord und Totschlag zerstrittenen Parteien mithilfe einer gemeinsamen Dichtungssprache, einer gemeinsamen Dichtung den Frieden zu bringen, der nur aus der Entdeckung der Gemeinsamkeit kommen konnte, aus dem gemeinsam betriebenen und genossenen schönen Spiel der Kunst, aus der Lebensfreude und Lebensdankbarkeit, die wir heute mit dem Wort „barock“ verbinden – mitten im Dreißigjährigen Krieg und mit aller Kraft seines politischen Einsatzes und seines dichterischen Vermögens gegen den Dreißigjährigen Krieg, trotz aller Skepsis in der nicht unterzukriegenden Hoffnung auf den Fortschritt, der eine Schnecke ist.
Grass zeigt uns diesen dichtenden Politiker, diesen politischen Dichter als einen Sterbenden. „Als Martin Opitz von Boberfeld im Sommer des Jahres 1639 einem Bettler der vor St. Katharinen die Hand aufhielt, einen Silbergulden gab und, weil von sparsamem Wesen, des Bettlers erbettelten Kupfer haben wollte, holte er sich mit dem Wechselgeld die schwarze Pest.“ In einem sehr zarten inneren Monolog nimmt der Sterbende Abschied von der Welt, von sich selber: „Martin hieß ich. Aus Bunzlau kam ich. Der mit den Regeln der Poeterey. … Doch ich wollte sterben und raus aus dem Jammertal: nackend wie ich gekommen.“
Günter hieß er. Aus Danzig kam er. Der mit der Blechtrommel und dem Butt, der Zwiebel und dem Weiten Feld. Zum Barockzeitalter hat er seit dem ersten, dem Schelmen-Roman vom Blechtrommler, ein so inniges, ja intimes Verhältnis gehabt, dass ich meine Studenten mithilfe seiner Bücher in die Barockdichtung eingeführt habe, unter der Überschrift „Grass und das Barock“; es ging wie von selbst. Nicht nur weil Grass mit der Poesie und der Romankunst dieses Zeitalters auf so vertrautem Fuße stand, wie es die Erzählung vom Treffen in Telgte zeigt, nicht nur weil er im Simplicissimus-Dichter Grimmelshausen sein eigenes Vor- und Leitbild sah, nicht nur weil aus seinem aufmerksamen Porträt von Martin Opitz heraus seine eigenen Augen uns anblicken wie aus dem diskreten Selbstbildnis. Grass‘ Liebe zum Barock entsprang einer tiefen inneren Verwandtschaft. Wie die großen Barockpoeten, so sah er sich selbst in einer von Kriegen und Gewalt im Großen und in Kleinen versehrten Welt nicht nur als einen Verteidiger des friedlichen Zusammenlebens, sondern vor allem als Verteidiger, ja als Apostel einer Lebenslust, Lebensdankbarkeit, einer sinnlichen Daseinsfreude, die vor dem nachtschwarzen Horizont der großen Vergänglichkeit nur umso intensiver leuchtete. Das nackt-illusionslos allgegenwärtige Bewusstsein der Endlichkeit, das im barocken Bibellatein vanitas hieß, und die Hingebung ans vorläufige, endliche Diesseits, die dem Auftrag carpe diem treu bleiben wollte – unter dieser gewaltigen Spannung tat er es nicht. Günter Grass‘ ganz zeitgenössischer, ganz gegenwärtiger Barockdichtung war alles Kleinliche, Pedantische, Mickrige immer ein Greuel; was er liebte, war der große Schwung, die Wucht, die große Lust und das Bewusstsein des großen Elends. Bevor sein Martin Opitz am Schwarzen Tod stirbt, „schrieb er noch Briefe an Oxenstierna, den Schwedenkanzler, und Wladimir, den Polenkönig“, denn die politische Unruhe treibt ihn doch noch um bis zuletzt, und dann isst er „noch ein wenig vom Dorsch, den ihm seine Küchenmagd in Dillsoße kochte.“ So, nachdem er die letzten Texte unterzeichnet hat und mit dem Dillaroma auf der Zunge, verlässt er das Jammertal, nackend wie er gekommen ist.
Vonne Endlichkait, das Buch, dessen letzte Korrekturen Günter Grass drei Tage vor seinem Tod ausgeführt hat, ist, vom Titel angefangen, seine letzte barocke Dichtung geworden. Grass zeigt sich darin selbst als einen lebenslustigen, lebensdankbaren, diesseitsfrommen Bewohner des Jammertals. Tatsächlich schreibt er noch letzte Briefe, oder vielmehr: letzte politische Spruchgedichte an, so die Überschrift, „Mutti“, also die deutsche Kanzlerin, und über Tsipras, den Griechenkönig. Aber vor allem zeigt er sich in barocker Drastik, radikal schonungs- und schamlos und eben darum mit einer wundersamen Würde, als einen alternden, dem Sterben nahen Menschen. Wir sehen mit ihm, wie er seine letzten Zähne, schließlich gar seinen wirklich letzten Zahn verliert, sehen in der begleitenden Tuschzeichnung mit ihm in den erbarmungslosen Spiegel, in den zahnlosen Mund, und müssen mit ihm inmitten dieses traurigen Geschehens lachen, wenn er, ganz liebender und spielfreudiger Großvater, für seine sich vor Angstlust grausenden und begeisterten Enkel „Höllengelächter mimt“. Einen „zahnlosen Narr“ nennt er sich in dem kleinen Gedicht, das auf diese kleine Prosapassage folgt, und steht mit diesen beiden Worten wieder ganz barock da, mit offenem Mund, als ein Emblem der Endlichkeit.
Dass immer erzählende Prosa-Passagen und Gedichte einander ablösen, die letzteren meist in modern-freien Rhythmen und manchmal im strengen Opitz‘schen Metrum: das wiederholt, wie Grass-Leser sogleich bemerken werden, die grundlegende Bauform des Butt-Romans, nur jetzt in der ganz kleinen, der Spiel-Form eines literarischen Epilogs und Abschieds-Buches. Erst wird ein bisschen erzählt, geplaudert, dann wird in Gedichten das eine oder andere Motiv aufgegriffen, vertieft, zugleich anschaulich konkretisiert und erhoben ins Exemplarische, Mustergültige. Betrachtet man, wie innig gerade in diesem letzten Buch Zeichnungen, Prosa und Poesie ineinander verwoben, miteinander verschränkt sind, dann zeigt sich noch in dieser Gestalt des Buches die prägende Kraft der barocken Dichtung: der Emblem-Kunst, die in pointierten dichterischen Versen aus Bildern einfacher, allgemein bekannter Sachverhalte Lehren ableitete über Leben und Sterben, Gott und die Welt. Genau so beziehen sich in Vonne Endlichkait Bild, Erzählung und Gedicht aufeinander und bilden ein Ganzes: höchst anschauliche, konkrete Dinge wie eben der ausgefallene Zahn, die beim Waldspaziergang gefundenen toten Frösche, die getrockneten und eingerollten Herbstblätter werden wie von selbst, ohne jede Anstrengung abstrakter Reflexion, zu Sinnbildern von Leben und Tod, Leibesfreuden und Vergänglichkeit, ersten und letzten Dingen. Darum kann in diesem Buch auch vom Glauben und vom Glaubensverlust, vom fröhlichen Heidentum und vom dunklen Nichts so leicht, so folgerichtig und fast beiläufig die Rede sein. Die längste Geschichte erzählt davon, wie der Alternde sich zusammen mit seiner Ehefrau überlegt, in welchen Särgen sie einmal begraben sein wollen, wie sie beim freundlich-vertrauten Schreiner die Särge tischlern lassen, sie mit nach Hause nehmen und dort aufstellen. Und sie erzählt, weil der Barockdichter Günter Grass eben das Ganze und nicht das Halbe will, wie er und sie dann in diesen Särgen probeliegen – eine im übrigen frei erfundene kleine Szene von atemberaubender Scham- und Schonungslosigkeit, ganz leicht hingetuscht wie alles in diesem Buch, die Bilder wie die Texte, und sie kulminiert eben nicht im schlichten Bewusstsein des Todes, sondern in der gesteigerten Wahrnehmung des Lebens: „Wie seltsam, jeweils des anderen Atem zu hören.“ Und dann, rasch und übergangslos, die nüchterne Fortsetzung: „Beim Aussteigen wurde mir meine Frau behilflich.“ Wiederholt gelesen, und ich habe ihn mittlerweile wiederholt gelesen, erweist sich der auf den ersten Blick so makabre Text als eine Art Liebesdichtung.
Meine Damen und Herren, kein Motiv erscheint in den Bildern dieses Buches so häufig wie die Federn, die ausgefallenen und gesammelten Vogelfedern. Ich sah sie in dem Atelier in Behlendorf, das Grass seine „Werkstatt“ nannte, bei meinem letzten Besuch auf dem Boden ausgebreitet und wusste nicht, welchen Beziehungsreichtum sie in diesem Buch entfalten würden: als ganz einfache, triftige Bilder der Flüchtigkeit, der Vorläufigkeit und Endlichkeit auch des großartigsten Höhenfluges, als Erinnerungen an die Schreibfeder, wie sie Grass‘ Umschlagszeichnung zum Treffen in Telgte zeigte, als Inbild aber auch einer Leichtigkeit und Heiterkeit angesichts des Sterbens, ja noch inmitten des Sterbens, von der dieses Buch nicht nur handelt, sondern die es auf jeder Seite zeigt. Vonne Endlichkait: Günter Grass‘ letztes Buch ist ein anrührendes, manchmal bezauberndes Kunstwerk. Und es ist, wie Grass es an den Dichtungen seiner barocken Lehrer geliebt hat, ein kleines memento mori geworden, ein Lehrbuch für die schwierige Kunst, etwas besser mit unserer eigenen Endlichkeit zurande zu kommen.