Interview mit der Zeitschrift Graceland 214 (2013)

Die Fragen stellte Irene Ickler.

Frage: In einem Interview mit dem Göttinger Tagblatt vom 27. März 2007 sagen Sie, dass man Dylan nicht verstehen kann, wenn man nicht etwas über Elvis Presley weiß. Seit wann beschäftigen Sie sich mit Elvis Presley?
HD: Als ich ungefähr elf oder zwölf war, schenkte meine Tante mir ihre Sammlung von Rock’n’-Roll-Singles, lauter Originalpressungen von Fats Domino, Eddie Cochran, Duane Eddy, den Kalin Twins, Chuck Berry. Elvis war am umfangreichsten vertreten. Diese Sammlung war das Beste, was die Tante für meine Erziehung getan hat. Titel wie „Jailhouse Rock“, „Don’t“, „Heartbreak Hotel“ habe ich Tag für Tag gehört; es hat mir auch schon eine Ahnung davon gegeben, welche unterschiedlichen Seiten (und Stimmen) es bei Elvis zu entdecken gibt. Als ich dann mit fünfzehn zum ersten Mal Dylan hörte, verblassten die Rock-Helden im Glanz dieser neuen Entdeckung. Es ist mir dann so gegangen, wie ich es von vielen Freunden und Kollegen später auch gehört habe, dass die Elvis-Welt mir im Vergleich damit banal und kommerziell erschien; man legte ja als Dylanianer größten Wert darauf, dass das ganz große Kunst sei und viel mit Kafka und Joyce zu tun hätte, aber bitte nichts mit Las Vegas. Als Elvis starb, nicht lange nach meiner Dylan-Konversion, war das etwas Erschütterndes, aber es war auch wie das Ende der Pionierzeit. Es hat dann sehr lange gedauert, bis ich Elvis wiederentdeckte, und das verdanke ich ganz wesentlich eben Dylan selbst. Man hätte ja schon bei „Nashville Skyline“ (mit dem damals auch noch, es ist peinlich zu sagen, als reaktionär und kommerziell verrufenen Johnny Cash) und erst recht bei „Self Portrait“ und dessen Resteverwertung auf „Dylan (A Fool such As I)“ darauf kommen können, dass dessen Verhältnis zu der Kunst, die Elvis verkörpert, ganz, ganz anders war, als wir pubertierenden Intellektuellen uns das vorstellten. „A Fool such As I“ hielt ich zuerst für einen Dylan-Song. Mir wurde irgendwann im Laufe der achtziger Jahre klar, dass ich meinen Kompass mal grundlegend überprüfen müsste, weil man Dylan und Dylans mythisches Amerika gar nicht verstehen kann ohne, zum Beispiel, Elvis. Aber um diese Zeit war der Name für mich noch immer eine Chiffre für grellbunte, bonbonsüße Kommerzkunst, die eben als das eine Extrem zu einer sehr breiten kulturellen Skala gehörte, an deren anderem Ende Woody Guthrie stand oder dann Ginsberg. Erst in den letzten ungefähr zehn Jahren ist mir Elvis wirklich wichtig geworden, ganz ohne Umwege über andere, ohne besonderen Legitimierungsbedarf, in seiner ganzen unergründlichen, wunderbaren Kunst. Diese Entdeckung, die sich wie ein spätes und geradezu überwältigendes „Ach so!“ einstellte, ist für mich genauso wichtig wie die Entdeckung Dylans damals. Mir ist da etwas klar geworden, was meinen Begriff und mein Erleben von Kunst verändert hat, man könnte auch einfacher sagen: was mir ein neues musikalisches Glück schenkt. Ich höre nicht auf, über Elvis zu staunen.

Frage: In dem Interview sagen Sie auch: „Wir leben nicht mehr in der Welt nach 1968, in der man sich entweder für Goethe und Thomas Mann interessierte oder für Bob Dylan. Ich bin keineswegs der einzige, der sich sowohl für die großen Künstler der Popularkultur als auch für die großen Traditionen interessiert.“ Aber wenn man bei Google „Thomas Mann“ und „Elvis Presley“ gleichzeitig eingibt, stößt man sofort auf Heinrich Detering, und dann kommt eine ganze Weile nichts. – Wie erklären Sie sich das?
HD: Tatsächlich haben sich in unseren Fächern alte Berührungsängste und Blockaden in den letzten Jahren sehr weitgehend aufgelöst, was das Verhältnis der Literatur- und Kulturwissenschaften zur „Popularkultur“ angeht. Ausgerechnet bei Elvis aber scheint es immer noch verbreitete Bedenken, Abneigungen oder einfach Desinteresse zu geben – wie ich sogar bei solchen Kollegen feststellen musste, die sich intensiv mit Dylan oder Neil Young oder David Bowie beschäftigen. Das Elvis-Bild auch in den neueren Kulturwissenschaften scheint mir immer noch sehr reduktionistisch (und ich kenne diese Vorurteile ja aus eigener Erfahrung): es gibt da entweder den jungen Wilden oder den fetten Schnulzenproduzenten, und das war’s. Wenn Elvis wahrgenommen wird, dann allenfalls als ein kultursoziologisches Phänomen, nicht als Künstler. Andererseits bin ich mit meinen Überlegungen zu den Vegas-Konzerten als assoziiertes Mitglied in eine Forschergruppe zum Thema „Serialität“ eingeladen worden, also wächst da vielleicht doch ein neues Interesse.

Frage: In Ihrem Buch über Bob Dylan erwähnen Sie Dylans Inspiration durch Elvis. Es gibt ja berühmte Zitate, die von seiner Leidenschaft zeugen, z.B. „When I first heard Elvis’ voice, I just knew that I wasn’t going to work for anybody, and nobody was going to be my boss. He is the deity supreme of rock and roll religion as it exists in today’s form. Hearing him for the first time was like busting out of jail. I thank God for Elvis Presley.“ Oder „It [the death of Elvis Presley] was so sad. I had a breakdown! I broke down… one of the very few times I went over my whole life. I went over my whole childhood. I didn’t talk to anyone for a week after Elvis died. If it wasn’t for Elvis and Hank Williams, I couldn’t be doing what I do today.“ Oder „The highlight of my career?…That’s easy, Elvis recording one of my songs.“ Welche Bedeutung hatte Elvis für Bob Dylan?
HD: Die Beziehung zu Elvis ist einer der roten Fäden, die man durch Dylans gesamte Karriere verfolgen kann. Er taucht ja auch an entlegenen Orten plötzlich auf, zum Beispiel in dem nicht sehr bedeutenden „TV Talkin’ Song“ auf Under the Red Sky von 1990, wo Dylan die Szene erwähnt, in der Elvis aus Wut den Fernseher kaputtschießt („Sometimes you gotta do like Elvis did / And shoot the damn thing out“). Auch wenn man sich die Coverversionen anhört, die Dylan ja schon seit der Zeit von „Self Portrait“ gesungen hat, von „A Fool Such As I“ bis zu „Tomorrow Night“ (auf Good As I Been To You) und wenn man in den letzten zwanzig Jahren seinen Weg zum Archäologen der populären amerikanischen Musik verfolgt, begegnet einem Elvis immer wieder. Für Dylan ist er, scheint mir, zugleich diese mythische Gestalt, in der sich Größe und Elend des Rock’n’roll verkörpern, und ein musikalischer Kompass wie auf andere Weise Hank Williams oder Robert Johnson. Dabei ist Dylans Verhältnis zu Elvis, wie so vieles bei ihm, durchaus widersprüchlich. Zeitweise scheint ihn gerade der Glitzerstar der Jumpsuit-Ära interessiert zu haben, bis hinein in seine eigene Kostümierung in den Konzerten 1978; dann wieder spielt er den frühen Elvis gegen den späten aus (wie er es mit Cash auch getan hat) und überhöht die SUN-Aufnahmen zu einem Dokument einer Reinheit und Unschuld, nach der es nur noch bergab gehen konnte. Dann wieder spielt er, in seiner Radiosendung zum Thema „Tennessee“, mehrere Songs vor, in denen andere Sänger Elvis ihre Reverenz erweisen. Keine dieser Einstellungen scheint mir endgültig zu sein; nach meinem Eindruck ist Dylan mit Elvis nie fertig geworden.

Frage: Elvis hat bekanntlich Tausende von kreativen Menschen inspiriert, darunter nicht wenige hochbegabte und berühmte. Spricht das nicht allein schon für seine Qualität?
HD: Ja, klar. Dabei liegt die Betonung auf dem „inspiriert“. Es ist ja nicht so, dass Elvis bloß dieses Abziehbild wäre, das jeder kennt und mit dem man keine Kunst mehr verbindet, die vielmehr wie eine Comicfigur zitiert wird, die knallige Schwundstufe eines Mythos. Elvis hat ja immer wieder, nicht nur in den frühen Jahren, der populären Musik Amerikas eine neue Richtung gegeben, mit gewiss nicht weniger kreativer Energie und Erfindungskraft als zum Beispiel die Beatles (die selber ohne ihn nicht zu denken sind). Und diese Fähigkeit, andere zu inspirieren, geht ja auch weit über die Musik hinaus. Für Andy Warhols serielle Siebdrucke zum Beispiel ist Elvis, wie mir scheint, nicht einfach eine austauschbare Popikone unter anderen, sondern ein Anreger, der die serielle Inszenierung und – schon durch das Offenlegen des Seriellen – die ironische Subversion von Figuren und Posen schon vorgemacht hat. Da ließen sich noch viele Beispiele nennen.

Frage: Nun nennen Sie in Ihrem Bob-Dylan-Buch Elvis den „Schamanen der unergründlich banalen Pop-Weisheit“. Das hat einigen Elvis-Fans nicht gefallen, weil sie es als Ausdruck der Geringschätzung verstanden. Elvis hat ja gerade nicht ausgedrückt, dass alles schön und gut ist, sondern er hat auf revolutionäre Weise neue Brücken gebaut zwischen Schwarz und Weiß, Arm und Reich, Mann und Frau. Vielleicht möchten Sie Ihre Formulierung für unsere Leser etwas näher erläutern?
HD: Das war ganz anders gemeint, als die beleidigten Freunde es aufgefasst haben, und es tut mir leid, wenn es missverständlich war. Die Pointe sollte gerade darin liegen, dass das Banale sich als Weisheit erweist. Denn was könnte banaler erscheinen als das dreimalige „Well, well, well“, das Dylan seinen „Gypsy“ in der Elvis-Hommage „Went to See the Gypsy“ als einzigen Satz sagen lässt! Aber hat man einmal bemerkt, dass es eben Elvis sein soll, der das sagt, dann kommt einem sofort dieses gewaltige „Well, well, well“ in den Sinn, mit dem er in den späten Konzerten, a capella und mit den langsam einfallenden Stimmen der „Stamps“, Ray Charles’ „I Got a Woman“ eröffnet – diese in eine reine Stimmbewegung aufgelöste Gospel-Innigkeit, die dem einen Wort alle Schattierungen von abwartender Skepsis, Zuwendung und tiefem Einverständnis zurückgibt, ehe es dann in den Jubel ausbricht. Vielleicht hat Elvis an diese wunderbare Aufnahme der Staple Singers gedacht, „Uncloudy Day“, wo Mavis Staples mit demselben „Well“ dasselbe tut – nur dass Elvis diese tief afroamerikanische Gospel-Bewegung in den Konzertsaal in Las Vegas hereinholt und mit dem ganzen mächtigen Volumen seiner späten Stimme aufklingen lässt. Dieses „well“ ist eben einerseits völlig banal, weil es für sich genommen gar nichts sagt, nur zu einer klingenden Silbe wird – und andererseits wird es durch die Bewegungen der Stimme unergründlich beziehungsreich. Es wird durch die Stimme instrumentiert und entfaltet. Damit geht es diesem Wort ein bisschen wie Hölderlins oft verspottetem Vers „Denn alles ist gut“, den man ja auch entweder, so wie er dasteht, als Trivialität lesen kann oder als letztes Wort nach langen Gedankenwegen, als staunende Erkenntnis. Was Elvis’ dreifaches „well“ sagt, meint vielleicht dasselbe wie Leonard Bernsteins Bemerkung über Beethovens Musik: „I don’t know what the question was, but I know the answer is yes.“ – Wenn ich diesen Vegas-Elvis in dem kritisierten Satz einen „Schamanen“ nenne, dann ist das ganz präzise so gemeint. Ich bin ziemlich sicher, dass das Ritual der Vegas-Konzerte und der daraus hervorgegangenen Tourneen sich in wesentlichen Zügen – wenn auch beileibe nicht in allen – mit Bildern und Begriffen des Schamanismus beschreiben lässt. Das kann ich hier nur behaupten, es müsste viel ausführlicher begründet werden. Jedenfalls sage ich das mit dem Schamanen der unergründlich banalen Pop-Weisheit liebevoll und bewundernd, nicht herablassend – schon gar nicht im Blick auf einen Song, der diesen Elvis als eine unerreichbar überlegene Gestalt darstellt.

Frage: Entsteht der Eindruck des „Banalen“ vielleicht dadurch, dass Elvis durch seine Texte keine greifbare „Botschaft“ vermittelte, weil die „Botschaft“ eben in seinem Auftreten und in seiner Person selbst bestand: in seiner entfesselten Körperlichkeit, seiner „ansprechenden“ Stimme, seiner Zugewandtheit? Das Ansinnen, seinen Einfluß für eine politische Botschaft zu nutzen, hat er immer zurückgewiesen: „Ich bin Sänger, ich bin Entertainer.“
HD: Und dabei hat er doch auf eine viel stärkere Weise politisch gewirkt als die meisten politisch engagierten Singer-Songwriter! Die Emanzipation der Sexualität, überhaupt des Körpers, sein rücksichtloser, zerstörerischer und neue schöpferische Impulse verbindender Umgang mit den Traditionen Amerikas, seine ungeheuer provozierende Art, „ich“ zu sagen – das hat die amerikanische Kultur der fünfziger, sechziger, auch noch der siebziger Jahre vermutlich mehr verändert, als es die Arbeit irgendeines anderen einzelnen Künstlers getan hat. Für jemanden wie mich, der es gewohnt ist, sich mit Songtexten und allenfalls auch mit Kompositionen zu beschäftigen, ist die Art seiner Kunst allerdings eine wirkliche Herausforderung. Er hat ja nie einen Song geschrieben, er war, den landläufigen Ordnungsrastern nach, ‚nur’ ein reproduzierender Künstler, der nachsang, was andere geschrieben hatten – eine Annahme, die ja seine kreative Kraft, seinen Einfallsreichtum, den Kern seiner Kunst offensichtlich verfehlt. Wie also beschreibt man diese Kunst, welche Begriffe und Kategorien sind da am Platz?

Frage: Elvis und Bob Dylan sind zwar amerikanischen Zeitgenossen, haben aber recht verschiedene Elternhäuser. Beide Künstlernaturen sind heimatgeprägt und trotzdem Außenseiter. Elvis hat an Vorurteilen gegenüber seiner Herkunft zu leiden. Trotzdem oder gerade deswegen bleibt er sehr familien- und heimatbewusst. Wie ist das bei Bob Dylan und unterscheiden sich auch deshalb die Fans der beiden Künstler in erkennbarer Weise?
HD: Gerade diese zwar gebrochene, aber doch eigenartig konstante konservative Seite – das Wort ist heikel, ich benutze es nur vorläufig und abkürzend – haben Dylan und Elvis vielleicht am tiefsten gemeinsam. Beide arbeiten sich ab an den Selbstbildern, Mythen, Überlieferungen Amerikas, beide haben diese Vorliebe für das alte, ländliche, archaische Amerika, auch für den Süden, beide teilen die Aversion gegenüber den hippen neuen Trends und Medien, beide wollen gegenüber vielen Versuchen, die Pop- und Rockmusik an die Ausdrucksformen der ‚Hochkultur’ anzunähern und sie dadurch vermeintlich aufzuwerten, die einfachen Strukturen des Songs behaupten, mit Vers und Reim, Strophe und Refrain. Und beide zeigen doch, wie unerschöpflich die Wandlungsmöglichkeiten dieser einfachen Traditionen sind, und zwar in der Country Music wie im Gospel, im Blues und in den Nursery Rhymes – no limits. Natürlich ist Dylan ein Intellektueller in einer Weise, wie Elvis sie weder darstellen konnte noch darstellen wollte, und natürlich spielt Dylan von Beginn an viel deutlicher mit dem Hässlichen, Zerrissenen, als Elvis das tut, und vermutlich sind sie zumindest zeitweise auch politisch weit auseinander gewesen. Aber die gemeinsamen Grundzüge und Bezugspunkte sind stärker und dauerhafter, als man auf den ersten Blick wahrnimmt (und ganz sicher wäre es komplett daneben, Dylan als den reflektierten Artisten und Elvis nur als den simplen Naiven zu sehen). Nur so erklärt sich ja auch dieses eigenartige wechselseitige Interesse. Wenn Elvis im Studio den Refrain aus „I Shall Be Released“ improvisiert und dann nach einer kurzen Pause einfach „Dylan!“ sagt, dann bemerkt man etwas von dieser Distanz und Faszination.

Frage: Elvis wollte kein Religionsstifter und kein Heiliger sein. Die Verknüpfung „Elvis und Jesus“ ist für die meisten Elvis-Fans eine ziemlich abwegige Idee, und Elvis Presley selbst hat jede solche Erhöhung entschieden zurückgewiesen: „Jesus is the King“. Trotzdem hat sein eigener Tod – beinahe auf offener Bühne – etwas Märtyrerhaftes, weil er sich gewissermaßen für das Glück seiner Anhänger aufgeopfert hat. Spielt dieses Ende eine Rolle im Elvis-„Kult“? Gregory L. Reece hat gezeigt, dass abgesehen von Randerscheinungen die Elvis-Fans ihr Idol nicht wirklich „religiös“ verehren. Ihre Anhänglichkeit hat viel mit Liebe zu tun, und das reicht doch eigentlich auch als Erklärung für das Sammeln von Memorabilien („Reliquien“), für Memphis-Reisen und den sogenannten„Personenkult“. Man könnte sogar von einer erfüllten und erwiderten Liebe sprechen, denn die Art, wie Elvis sich seinen Fans widmete, viele von ihnen in der Masse wiedererkannt und sie alle persönlich anzusprechen schien, war wohl einzigartig.
HD: Elvis und die Religion, das ist eines der schwierigsten Themen, mit denen man es zu tun bekommen kann. Es ist so komplex, und ich bin damit noch so wenig ‚fertig’, dass ich mich nur auf ganz kurze und stichworthafte Andeutungen beschränke, denen ich weiter nachgehen will. Zunächst ist zu unterscheiden zwischen Elvis’ persönlichem Verhältnis zur Religion, seinem Verhältnis zu den Traditionen der religiösen Musik und dem Verhältnis seiner Fans zu ihm. Man muss das so weit wie möglich unterscheiden, auch wenn de facto natürlich immer eins ins andere übergeht. Elvis ist einerseits ganz traditionell christlich geprägt, vom Protestantismus der weißen Mittelklasse des Südens und gleichzeitig von den pfingstkirchlichen Gottesdienstformen der afroamerikanischen Gemeinden. Andererseits wird sein religiöses Bedürfnis vor allem in den späten Jahren unruhig und fragt über die vertrauten Wörter und Geschichten hinaus weiter; dann endet er manchmal bei Spökenkiekereien wie der Numerologie oder der Astrologie. Aber wenn man sieht, wieviel er immer wieder an den Rand der spirituellen Bücher kritzelt, die Larry Geller ihm beschafft, dann sieht man, wie viel Unruhe, Neugier, Glaubensbedürfnis und Glaubenszweifel da am Werk sind. Das sind Fragen für Biographen, die mit seiner Kunst vielleicht weniger eng verbunden sind.
Anders sein Verhältnis zum Gospel. Die Gospel Music ist nach meiner Überzeugung das Fundament seiner Musik, und sie bleibt ihr Glutkern bis zum Schluss. Auch die Sexualität seiner Performances ist ohne diese fließende Grenze zur religiösen Ekstase, Innigkeit und Inbrunst gar nicht zu denken – was nicht heißt, dass man nicht zur Beschreibung dessen, was er da mit seiner Stimme und seinem Körper tut, vergleichend auch auf Ausdrucksformen und rituelle Praktiken anderer Religionen zurückgreifen kann, etwa auf das, was Nietzsche das „Dionysische“ genannt hat, oder auf die Kulte der Schamanen. Vielleicht am schwierigsten in diesem schwierigen Feld ist das Verhältnis der Fans zu Elvis als Idol zu beschreiben – und dann die Wechselwirkung zwischen dieser Rezeption und Elvis’ Selbstinszenierungen. Zunächst sieht das alles ganz einfach aus, aber dann bemerkt man, dass die einzelnen Züge gar nicht so einfach zusammenpassen, und dann ahnt man, dass hinter diesen Widersprüchen und Spannungen womöglich etwas ganz anderes wirksam ist. Elvis tritt zu Richard Strauß’ „Zarathustra“-Klängen als Superman, als Übermensch auf, und alles jubelt – also inszeniert er sich als eine Pop-Gottheit? Er singt „How Great Thou Art“, und alles jubelt – also ist er der Priester einer Erweckungsbewegung und preist im Einklang mit seiner Gemeinde demütig den Herrn? Er singt zum Abschluss des Konzerts „Falling In Love With You“ und verteilt serienweise Schweißtücher als Berührungsreliquien – also ist er das Objekt eines modernen Heiligenkults? Und dann natürlich der Tod, von dem Greil Marcus’ Buch ausgeht – ist Elvis da der Märtyrer einer Kunstreligion des Pop? oder das heidnische Opfer auf dem Altar der Kommerzkultur? oder etwas ganz anderes? Und wie verhält sich der Totenkult, zu dem er ja nun wirklich selber nichts mehr beiträgt, zu den Opfer-Gesten, die er in seinen Konzerten erfindet? Das alles ist eine sehr faszinierende und sehr komplexe Geschichte, die viel mit der Rolle der Religion und der Religionen in Amerika zu tun hat und genauso viel mit Elvis’ ganz eigenwilliger und eigenartiger Kunst, und man kann sie nicht in ein paar Zeilen erzählen, vermutlich reichen auch ein paar Bücher nicht aus.

Frage: Elvis Presleys Auftreten bedeutet nicht nur eine neue Stimme, sondern auch eine neue Körpersprache. „Ich singe mit dem ganzen Körper, ich kann nicht anders“, sagte er zu seiner Verteidigung gegen die bekannten Vorwürfe von konservativen und bigotten Kritikern. Man hat das auf die ekstatischen Bewegungen zum Gesang evangelikaler und besonders schwarzer Gemeinden zurückgeführt. Wahrscheinlich zu Unrecht, denn gerade wenn Elvis Gospel sang (eine von seinem Management geradezu gehasste und unterdrückte Seite seines Lebens), bewegte er sich nicht, wogegen er bei seinen weltlichen Liedern selbst im Studio zur Verzweiflung der Tontechniker keinen Augenblick stillhalten konnte. Hat Elvis hier intuitiv eine ursprüngliche Verbindung von Musik und Tanz wiederentdeckt – nämlich bei den schwarzen Sängern in Beale Street, wie auch Greil Marcus in „Dead Elvis“ hervorhebt?
HD: Ja, das hat er ganz sicher, und ich bin nicht mal so sicher, ob das wirklich nur intuitiv war. Elvis war sich vermutlich in einem viel höheren Grade klar über das, was er tat und was er wollte, als es das Klischee vom naiven Naturkind unterstellt.

Frage: Sind die Zuhörer nur wegen des Programms gekommen oder auch wegen des unberechenbaren Teils von Elvis’ Auftritt – sein Spaß, seine Improvisationen, die sogar die begleitenden Musiker zur höchsten Aufmerksamkeit trieben? Hat Elvis mit seinen Kontaktaufnahmen zum Publikum und seinen manchmal nur noch angedeuteten alten Songs der Ritualisierung entgegenzuwirken versucht? Elvis Presleys Humor, auch das Spiel mit der eigenen erotischen Wirkung – die „linke Oberlippe“, um es mit Alan Posener zu sagen – scheint der Elvis-Gemeinde bis heute einen heiteren Zug zu verleihen: Man nimmt sich selbst auch wieder nicht so ernst, und das ist ja wohl das Gegenteil des Sakralen (tremendum), oder?
HD: Elvis’ Sinn für Komik, sein Humor, sein zur Schau gestelltes Vergnügen an kindlichen Späßen, aber auch die subtileren Formen seiner Selbstironie: das ist tatsächlich der Bereich, der für mich die Auseinandersetzung mit den kunstreligiösen Seiten seiner Auftritte auf eine produktive Weise erschwert. Ein Heiliger macht keine Witze, sollte man meinen, am wenigsten über sich selber und vor seinen Anhängern. Aber Elvis tut genau das am laufenden Band, ohne an Charisma einzubüßen. Dazu gehört auch das Spiel mit dem, was man „camp“ nennen könnte, also den trashigen Qualitäten des Bombastischen, opernhaft Pathetischen. Elvis setzt damit in seinen Konzerten etwas fort, was man ja auch schon auf den Alben hört, nämlich die Vermittlung von intimer Nähe – da ist die Komik, die ein augenzwinkerndes Einverständnis mit seinen Zuschauern herstellt, nur eine andere Variante der Intimität, die er mit seiner Stimme erzeugt. Diese Stimme kitzelt und streichelt, liebkost und schlägt den Hörer, und manchmal ist sie wie eine warme Decke, in die er sich einhüllen soll. Diese Konstruktion einer intimen Körperlichkeit, die ihn mit seinem Publikum verbinden soll, setzt Elvis im Konzert mit anderen, aber ebenso wirksamen Mitteln fort, und dazu, scheint mir, gehört die Komik. Sie erzeugt ein Einverständnis, das ungefähr besagt: Ihr und ich, wir spielen jetzt zusammen ein Spiel, über dessen Spielcharakter wir uns völlig im Klaren und völlig einig sind, und dieses Wissen macht das Spiel nur schöner. Erst unter dieser Voraussetzung kann es dann auch zu wirklichen Berührungen kommen, den Küssen, Umarmungen, den Schweißtüchern. – So ungefähr.

Frage: Elvis selbst hat zu Beginn seiner Karriere geglaubt, dass er hauptsächlich Teenager anziehe und dass sich die Begeisterung der jungen Menschen mit zunehmendem Alter auswachsen werde. Er sollte erkennen, dass er sich geirrt hatte. Was bedeutet diese Fehleinschätzung?
HD: Mindestens dies, dass man Elvis, so wie er es selber im Laufe der Jahre gelernt hat, als einen erwachsenen Menschen betrachten sollte, der Kunst für erwachsene Menschen gemacht hat.

Frage: Eine rein soziologische Betrachtung könnte „Elvis“ für ein Kunstprodukt halten, gemeinsam erzeugt von der Unterhaltungsindustrie und einem von ihr ausgebeuteten Publikum. Elvis wäre dann eine leere Mitte, in die sich alles Erdenkliche hineinprojizieren läßt. Aber war da nicht doch etwas ganz Besonderes, Nichaustauschbares – die Persönlichkeit und nicht zuletzt auch eine Stimme, die den Menschen etwas gab, was niemand sonst ihnen geben konnte?
HD: Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Elvis ist, wie auf seine Weise zum Beispiel auch Dylan, im schön altmodischen Sinne des Wortes ein „Genie“, ein schöpferischer Künstler, der immer wieder etwas zustande bringt, das niemand hätte antizipieren können und das sich dann doch niemand mehr aus der Welt wegdenken kann. Das schließt überhaupt nicht aus, dass er auch zu einer gewaltigen Projektionsfläche kollektiver Bedürfnisse, Ängste, Sehnsüchte geworden ist.

Frage: Herr Professor Detering, was dürfen wir von Ihrem Elvis-Forschungsprojekt erwarten?
HD: Mir wird immer klarer, dass ich, sozusagen als Nachzügler, nie das Wissen haben werde, das die altgedienten Elvis-Fans haben. Ich bewundere das, ich finde es manchmal geradezu unglaublich. Also bin ich für eine Elvis-Biographie ebenso wenig kompetent wie für eine Werkgeschichte. Meine Absicht, über Elvis zu schreiben, entspringt zuerst einem ganz persönlichen Bedürfnis, nämlich dem Wunsch, mir klar zu werden über das, was es eigentlich ist, das mich an Elvis’ Kunst so bewegt. Und da will ich versuchen, eben diese Kunst zu beschreiben und zu erörtern – also in erster Linie nicht das Biographische, nicht die Entstehungsgeschichten und Wirkungsmöglichkeiten (ganz ohne dies geht es natürlich nicht), sondern das, was Elvis da überhaupt macht, wie er es macht, welche – das ist im Blick auf ihn vielleicht noch immer ein merkwürdiges Wort – Konzepte von Kunst dem jeweils zugrunde liegen. In den späten Konzerten interessiert mich also vor allem das Verhältnis von Serialität und Aufbrechen der Serie, von Ritual und (Selbst-) Ironie, von Feier und Spiel. Allein schon seine fantastische Version von „Unchained Melody“ in den letzten Konzerten transzendiert den Kitsch in einen Bereich hinein, in dem es um Leben und Tod geht und der von einem Wort wie Kitsch gar nicht mehr berührt wird. Aber auch schon in der SUN-Zeit und in den frühen RCA-Aufnahmen frage ich nach der Spannung von Wiederholung und schöpferischer Destruktion seiner Vorlagen. Einen Standard wie „Blue Moon“ zum Beispiel verwandelt er in eine gewissermaßen zweistimmige Performance: zwischen der träumerischen Stimme, die sich an die Mondnacht erinnert, und dem hypnotischen Falsett, in dessen bedeutungslose Silben sich dieses Ich dann aufzulösen scheint wie in einen Zustand mystischer Verklärung (so wie er in anderen Songs seine Stimme wie ein Instrument behandelt, im Duett mit dem Schlagbass, um dann blitzartig wieder in ein Rollen-Ich zu schlüpfen, und so mehrmals hin und her). Ähnlich zweistimmig, nur mit einem ganz anderen Effekt, behandelt er Irving Berlins „White Christmas“, indem er es zuerst artig nachsingt und dann, im zweiten Durchgang, mit übermütig manieristischen Kapriolen in seine Einzelteile zerlegt. Da kann man wirklich, und ohne Übertreibung, von „Dekonstruktion“ sprechen, es ist eine großartige Provokation, über die Irving Berlin begreiflicherweise empört war – man denke, so was auf einem Christmas Album (das obendrein von diesem unverschämt sexy inszenierten „Merry Christmas Baby“ eröffnet worden ist)! Es gibt auch manche Songs, die so in Verruf geraten sind, dass sich niemand mehr dafür interessiert, und dann ahnt man nicht mal, was man da eigentlich verpasst. „Wooden Heart“ ist so ein Fall – da hören Deutsche immer zu schnell den Heimatkitsch heraus, wo amerikanische Hörer zuerst das Fremdartige der deutschen Strophe hören. Aber was diesen Song wirklich faszinierend macht, ist das Spiel mit dem Puppenspielhaften, das schon durch die betont mechanische Begleitung signalisiert wird. Das Lied schnurrt ab wie eine gut geölte Spieluhr, in exakt zwei Minuten ist alles vorbei, als wäre es eben doch nur eine Holzpuppe, die da agiert; und die sanfte, sozusagen warm durchblutete Stimme erzeugt die Gegenbewegung, von der im Refrain die Rede ist. Das mechanische und das menschliche Herz: es ist dieser ganz romantische Gegensatz, den Elvis in hundertzwanzig perfekt getimten Sekunden inszeniert. – Ja, ich glaube, ich werde mich auf solche Einzel-Analysen konzentrieren, die von Elvis’ Kunst handeln, mehr wird’s nicht.
Da ich nun mal Kultur- und Literaturwissenschaftler bin, kann ich das für mich nur in den Begriffen und Beschreibungskategorien dieser Wissenschaft tun, und vielleicht sage ich dabei manchmal Dinge, die den wirklichen Fans längst schon vertraut sind, auf eine Weise, die sie unnötig hochgestochen finden. Das kann durchaus passieren. Man muss sich, um das Ereignis von Elvis’ frühen Konzerten zu beschreiben, nicht auf Nietzsches Begriffe des „Apollinischen“ und des „Dionysischen“ beziehen, und vielleicht verdirbt man es sich, wenn man es trotzdem tut, sowohl mit den Nietzsche-Liebhabern als auch mit den Elvis-Fans. Aber für mich ist das eine Gedankenverbindung, die sich von selbst einstellt. Und vielleicht gibt diese Perspektive, die mir nun einmal vertraut ist und der ich nicht entgehen kann, auch einen neuen, jedenfalls einen etwas veränderten Blick auf die Phänomene, die man schon zu kennen glaubte. Und damit meine ich Elvis genauso wie Nietzsche.