Keine Angst vorm komischen Wolf. Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, März 2017

Wenn irgendwo in der Welt, dann ist der Wolf im Märchen die Verkörperung des Bösen und Gefährlichen – so glaubt ihn jeder zu kennen, den »bösen Wolf«. Aber dieser Glaube folgt nur daraus, dass die Lektüre so lange zurückliegt und dass sie so flüchtig war. Bei den Brüdern Grimm jedenfalls sieht der Wolf anders aus. Und zwar schon in seinem weltweit bekanntesten Auftritt: im Märchen vom Rotkäppchen. Zwar zeigt er hier immerhin eine bescheidene List und Verwandlungskunst, aber ein anderes Opfer als das törichte Kind hätte er mit Brille und Nachthaube schwerlich davon überzeugen können, die gute Großmutter zu sein; schon dieses Motiv hat eher komödiantische als bedrohliche Züge. Erst recht gilt das für die Tiefe eines Verdauungsschlafs, der eine Auftrennung des kompletten Leibes, die Entfernung der gierigerweise am Stück verschlungenen Großmutter samt Enkelin und schließlich auch noch die Verfüllung von Wackersteinen ins Bauchinnere ungestört durchschnarcht. Die Emotion, die dann sein spätes Erwachen und der Kollaps des Schwerleibigen am eigenen Körpergewicht auslösen sollen – diese Emotion ist viel eher das Verlachen des genasführten Tölpels als eine Befreiung von der Angst.
Tatsächlich ist der Wolf in den Grimm‘schen Märchen, in denen er übrigens im Verhältnis zu Bösewichten wie der Hexe eine viel bescheidenere Rolle spielt, eher eine derb komische als eine im Ernst furchteinflößende Figur. Komisch ist er, weil er seine eigene Schläue überschätzt, die ganz im Dienst einer unbeherrschten, ihn selbst überwältigenden Verfressenheit steht, und weil er an der eigenen Gier zugrunde geht. Wie der Wolf die sieben Geißlein mit immer neuen Einfällen zu foppen sucht, indem er nur die Farbe der im Hausinneren sichtbaren Tatze oder die Stimme zu verändern und sich als die liebe Geißenmutter auszugeben versucht, wie es ihm dann doch noch scheinbar gelingt, die Kleinen zu verspeisen, und wie er, der auch hier wieder überfressene Gierschlund, durch das kleinste der Sieben überlistet wird, wie er alle Verschluckten wieder hergeben und dann, ächzend vor Durst nach dem großen Fressen, in den Brunnen stürzt: das alles ist von der unbefangen grausamen Komik, die für archaische Volkserzählungen aller Zeiten und Kulturen so charakteristisch ist.
Bedrohlich ist dieser Wolf am Ende immer nur für sich selber: weil er, psychologisch gesprochen, seine hungrige Triebenergie nicht zu steuern vermag, weil das Wort »Affektkontrolle« ihm so fremd ist, wie es die Logik dieser Geschichten doch zusammenfasst. Die vielen »Rotkäppchen«-Parodien, die aus dem Vielfraß den sexuellen Sittenstrolch machen, zum Beispiel bei Dichtern wie Peter Rühmkorf oder Robert Gernhardt, zielen auf genau denselben Zug, sie verändern nur das Triebziel.
Wie ganz anders sieht gegen diesen halbschlauen Fresser der smarte Fuchs aus, in der schönen Geschichte vom Fuchs und dem Wolf zum Beispiel, die seit der 7. Auflage von Grimms »Kinder- und Hausmärchen« unter der Nummer 73 zu finden ist! Hier gehen die beiden Bösewichter gemeinsam auf Beutezug, als Herr und Knecht; der kleinere Fuchs muss dem größeren Wolf als Ratgeber und Spion dienen. Natürlich steht der Unterschied an Körpergröße und Kraft im genauen Goliath-David-Gegensatz zur Verteilung der Intelligenz, so dass der Wolf durch seine Unersättlichkeit und die daraus folgende Unbeherrschtheit seiner Bewegungen jedesmal zerstört, was der Fuchs so umsichtig geplant hat, und durch den Kleinen aus äußerster Bedrohung gerettet werden muss. So geht es, bis der Fuchs genug hat und den tölpelhaften Vielfraß an seiner eigenen Maßlosigkeit verrecken lässt: Im Vorratskeller, in den beide sich durch ein enges Loch gezwängt haben, vergisst der Wolf alle Ermahnungen zur Mäßigung und frisst, bis er so rund geworden ist, dass er im Ausgangsloch steckenbleibt, durch das der Fuchs geschmeidig entkommen ist, und vom wütenden Hausbesitzer erschlagen wird. Dieser Fuchs – der auch schon im bei den Grimms vorangehenden Märchen »Der Wolf und der Mensch« den dummen Wolf tödlich hinters Licht führt – wäre die für die Menschen eigentlich bedrohliche Figur, hielte ihn nicht eben sein scharfes Bewusstsein der geringeren Köpergröße und der ungleichen physischen Kraftverteilung auf Sicherheitsabstand.
Völlerei, Hochmut und Dummheit: das sind die Eigenschaften, die den Märchenwolf zwar immer wieder gefährlich, am Ende aber jedesmal zum lachhaften Verlierer werden lassen. Im durch Disney weltberühmt gewordenen englischen Märchen vom Wolf und den drei kleinen Schweinchen ist das nicht anders als in Prokofjeffs Kindermärchenoper von Peter und dem Wolf. Wirklich böse, alptraumhaft böse wird der Wolf erst dort, wo er sich mit dem Menschen mischt, »Werwolf«, also wörtlich ›Mann-Wolf‹ wird. Von den Mythen der nordischen Vorzeit bis in die Horrorfilme des modernen Kinos erlangt der Wolf etwas wahrhaft Grauenerregendes erst dort, wo er Triebhaftigkeit und Gewaltbereitschaft der menschlichen Spezies selber zum Ausdruck bringt, wo sich in ihm das inhumane Menschenmonster zeigt. Der wirklich böse Wolf: das sind wir.